Der Schichtwechsel

11. Juni 2025
Quelle: Word

Ich stieg auf mein Fahrrad, es dämmerte schon. Bin ich wirklich bereit? Was ist, wenn ich heute schon einen Fehler mache? Nein, ich schaffe das. Was ist, wenn ich doch nicht bereit bin? Ich bin bereit, sonst wäre mir die Stelle nicht angeboten worden. Ich bog in die Einfahrt ein und stieg von meinem Fahrrad ab. Mit klammen Fingern schloss ich mein Fahrrad ab. Ich ging langsam auf die Tür zu, atmete noch einmal tief ein und hielt meinen Badge an das Schloss. Es klickte einmal und ich öffnete die Tür. Langsam lief ich den Gang entlang, der Geruch von Desinfektionsmittel drang in meine Nase. Ich war schon oft hier langgelaufen, aber trotzdem fühlte es sich anders an. Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich in den Besprechungsraum und hörte mir den Rapport an. Es waren nur sehr wenige Patienten auf der Notaufnahme. Zum Glück! Solange es so wenige bleiben, sollte das schon gehen.   

Endlich fertig. Eigentlich war es ein ganz guter Dienst.  

Zu Hause angekommen, machte ich mir einen Tee und ass noch Reste vom Mittag. Müde fiel ich ins Bett, doch sobald ich im Bett lag, wirbelten mir viele Gedanken durch den Kopf. Der Tag lief gut, die Einführung hatte mich eigentlich ganz gut darauf vorbereitet. Aber was ist, wenn es mal einen Notfall gibt? Aber wer sagt, dass es wirklich gut gelaufen ist und ich mir das nicht nur einbilde? Eine warme Träne lief mir über die Wange und ich wischte sie mit einer schnellen Handbewegung weg. Ich muss jetzt einfach schlafen, vielleicht ist morgen dann alles besser.  

Einzelne Sonnenstrahlen schienen in mein Zimmer und ich konnte sogar ein paar Vögel zwitschern hören. Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee. Das Telefon klingelte, ich nahm den Anruf ab und die fröhliche Stimme meiner Mutter fragte: «Und wie war dein Dienst? Ich bin so stolz auf dich! Wollen wir heute zusammen essen gehen und dich feiern?»  

«Es war ganz okay.»  

«Super, ich bin so stolz auf dich», schnitt sie mir das Wort ab. 

 «Warte, ich schaue kurz nach, ob ich kann, okay?» Ich nahm mein Handy aus meiner Hosentasche und schaute in den Kalender, als eine Nachricht erschien. Sie war vom Spital, sie lautete: Guten Morgen Laura, kannst du heute einspringen? Anna fällt aus. Was soll ich antworten? Es würde einen guten Eindruck machen, wenn ich den Dienst annehme, aber schaffe ich das?   

Die Stimme meiner Mutter ertönte und fragte: «Uuuund, kannst du?»  

«Ich wurde gerade gefragt, ob ich einspringen kann. Aber ich weiss nicht, ob ich einspringen soll.»   

Die Stimme meiner Mutter tönte fast geschockt: «Natürlich springst du ein, das ist deine Chance, wir gehen ein anderes Mal essen.»   

Ich war so überrascht, dass ich nur ein Okay herausbrachte, und da hatte meine Mutter schon aufgelegt. Soll ich wirklich zusagen? Jetzt muss ich aber, was denkt sonst Mama von mir? Mit zitternden Händen schrieb ich zurück: Ja, ich kann gut einspringen. 

Als ich mich am Nachmittag wieder für den Dienst bereitmachte, zitterten meine Hände leicht. Ich betrachtete mich im Spiegel und ich musste lächeln, doch mein Lächeln sah unsicher aus. Ich fuhr wieder mit meinem Fahrrad zum Spital und ging wieder den Gang entlang. Es roch wieder nach Desinfektionsmittel. Ich ging zur Umkleide, zog mich um und befestigte das kleine Namensschild an meinem Kittel. Stolz betrachtete ich es, darauf zu lesen war: Oberärztin Laura Brunner. Die Oberärztin, die vor mir Dienst hatte, kam zu mir und fragte mich nach dem Rapport: «Ist das gut so? Dann gehe ich jetzt nach Hause, okay?»  

«Ja, das ist super, danke.»   

Doch schon fünf Minuten, nachdem sie gegangen war, kam Hanna zu mir und fragte mich: «Im Eingangsraum schlafen zwei Personen. Was soll ich machen? Wir können sie schlecht rausschmeissen, wenn es in der Nacht so kalt wird, oder?»   

«Ähm, ich weiss nicht, frag doch die Oberärztin», erwiderte ich. Siedend heiss fiel mir ein, dass ich doch die Oberärztin bin. Hanna sah mich immer noch fragend an und schmunzelte. Was soll ich denn jetzt machen? Darauf bin ich doch gar nicht vorbereitet worden. Unruhig verlagerte ich mein Gewicht von einem auf den anderen Fuss. Vielleicht sage ich einfach, dass ich noch einen Moment brauche. Aber ich muss mich doch schnell entscheiden können. Mir wurde warm und Blut schoss mir ins Gesicht. Konzentriere dich jetzt endlich. Was denken die anderen wohl von mir, wenn ich sie drinnen schlafen lasse? Rausschmeissen kann ich sie definitiv nicht. Ich räusperte mich einmal und sagte: «Ich würde sie schlafen lassen, geht das?»   

Hanna lächelte und antwortete: «Ja klar, du bist die Oberärztin.»   

Nicht mehr lange, und dann ist der Rapport. Als ich durch den Eingangsbereich lief, sah ich die beiden friedlich schlafen. Bei ihrem Anblick breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus. Plötzlich fiel mir ein, dass Matthias nach mir Dienst hat. Er darf nicht erfahren, dass ich sie drinnen schlafen gelassen habe, sonst bin ich gefeuert. Mir wurde heiss und ich ging sofort los, um Hanna zu suchen. Im Vorbeigehen schaute ich auf eine Uhr. In fünfzehn Minuten ist Rapport und er wird noch vorher kommen. Schnell, ich muss Hanna finden.  

Ich eilte durchs Krankenhaus, und plötzlich kamen mir die Gänge immer länger und bedrohlicher vor. Es fühlte sich an, als wäre ich eine Ewigkeit im Spital herumgeirrt, als ich Hanna entdeckte.   

«Hanna!», rief ich mit zittriger Stimme, «kannst du den beiden bitte Kaffee bringen und ihnen sagen, dass sie jetzt gehen müssen? Matthias hat heute Dienst, und wenn er das erfährt, habe ich ein Problem, bitte?»  

«Ja klar, ich kümmere mich um sie, geh du schon mal schauen, ob er da ist.»  

Schnell lief ich nach draussen, er war zum Glück noch nicht da. Doch schon nach zwei Minuten sah ich sein Auto in die Auffahrt fahren. Ich rannte zurück nach drinnen, die beiden waren noch da, aber Hanna sprach mit ihnen. Sie waren fast weg, als Matthias hereinkam. Er musterte mich und fragte: «Alles gut? Du siehst gestresst aus.»  

«Nein, nein, alles gut», erwiderte ich fast ein bisschen zu schnell. Puh, ich glaube, er hat sie nicht mehr gesehen. Ich drehte mich um, und zum Glück war Hanna mit den beiden verschwunden. Ich atmete tief aus, und ich merkte, wie Matthias mir einen fragenden Blick zuwarf, und wir gingen zum Rapport.   

Nach dem Rapport ging ich mit einem Lächeln auf den Lippen zur Umkleide, als ich Hanna und Matthias entdeckte, die miteinander sprachen. Sie bemerkten mich und Matthias drehte sich zu mir um und fragte: «Im System steht, dass zwei Personen im Eingangsraum geschlafen haben. Weisst du etwas dazu?» 

Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken hinunter und ich schluckte. Ich warf Hanna einen hilfesuchenden Blick zu. Sie räusperte sich und sagte: «Das ist ein Fehler, wie ich schon gesagt habe, nicht wahr, Laura?»  

«Ja, ich weiss nicht, wer das eingetragen hat und wieso das dort steht.» 

«Okay, komisch, dann kann man das löschen», erwiderte Matthias, doch man hörte die Verwunderung in seiner Stimme. 

Ich kam aus der Umkleide raus und spürte, wie ein mulmiges Gefühl in mir aufstieg. Ich entdeckte Hanna und fragte sie, wo Matthias ist. Sie meinte, dass er im Büro sei, und fragte mich, wieso ich das wissen möchte. Ich erwiderte knapp, dass ich mit ihm sprechen möchte, und lief zum Büro. Meine Hand schwebte kurz in der Luft, bevor ich klopfte. Von drinnen ertönte Matthias' Stimme und ich betrat das Büro.  

«Wie kann ich dir helfen?» Ich räusperte mich und hielt kurz inne. Matthias schaute mich erwartungsvoll an.  

«Ich war diejenige, die die beiden drinnen schlafen gelassen hatte, aber es war so kalt draussen.» Mit einem Schlag realisierte ich, was ich eigentlich gerade gesagt hatte. 

Matthias musterte mich und verzog keine Miene.  

Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein aufs andere, bis ich stotternd fragte: «Werde ich jetzt gefeuert?» 

Es fühlte sich an, als ob sich die Zeit verlangsamte. Endlich räusperte sich Matthias und begann zu sprechen. 

«Erstmal, danke, dass du so ehrlich warst und dich bei mir gemeldet hast. Dir ist aber hoffentlich klar, dass wir ein Spital sind und dass ich so etwas hier nicht tolerieren kann. Ich weiss, dass du es nur gut gemeint hast, und es war wirklich kalt, aber so etwas darf nicht mehr wieder vorkommen… Kannst du mir das versprechen?» 

«Ja», erwiderte ich kurz. Ich ging zur Tür und drehte mich kurz vorher noch einmal um und sagte leise: «Danke», doch Matthias hatte sich schon wieder zu seinem Computer gedreht.